Viel ist über den russischen Präsidenten Wladimir Putin geschrieben worden. Aber kaum etwas ist über seine Zeit in St. Petersburg bekannt. Sieht man einmal davon ab, dass der Putin-Biograf Alexander Rahr ihn folgendermaßen zu würdigen weiß: „Einen Freund vertraute er nach ein oder zwei Glas Bier an: „Ich habe ein zweites deutsches Wesen in mir entdeckt.“ Und weiter: „Sobtschak bestellte Putin, der sich bei den Reisen nach Deutschland und in andere westliche Länder so hervorragend bewährt hatte, zum Vorsitzenden des „Komitees für Außenbeziehungen“ der Regierung von St. Petersburg, zu einer Art Außenminister seiner demokratischen Administration…Putins rasanter Aufstieg symbolisierte eine Symbiose zwischen Finanzclans und Sicherheitsdiensten, eine Verschmelzung von Geld und Macht die es in dieser Form in Russland noch nicht gegeben hat.“33 Wusste der Putin-Biograf nichts von den Strukturen in St. Petersburg zur damaligen Zeit? Und damit wäre man auch noch bei Ex-Bundeskanzler Gehard Schröder und seiner Geburtstagsfeier in Sankt Petersburg.
Ein kurzer Exkurs. Im November 1989 ist die Mauer gefallen. Der KGB-Agent Wladimir Putin, damals in Dresden im Einsatz, kehrt nach Leningrad zurück. „Für den Reservisten Putin findet sich ein Plätzchen an der Universität. Er soll ausländische Studenten überwachen. Wladimir Putin, der treue Diener, der aufrechte Patriot, ein Spion aus Überzeugung, ist tief gekränkt. ‚Ich werde es allen noch zeigen’, sind die Worte, die ihm in diesem elenden Moment über die Lippen kommen.“34
Er bleibt nicht lange an der Uni, tritt in die Dienste des Reformers Anatolij Sobtschak, der 1990 zum Vorsitzenden der Leningrader Stadtverwaltung gewählt wurde. Im Schatten seines Mentors macht er schnell Karriere. 1991 übernimmt er als Sobtschaks Stellvertreter das „Komitee für außenwirtschaftliche Beziehungen“. Er gilt als „Grauer Kardinal“, ohne den nichts Wichtiges beschlossen wurde. Natürlich war er immer noch dem KGB verbunden. Einmal KGB immer im Dienste, lautet die Lebenserfahrung in Russland. In diesem Zusammenhang sollte nicht unerwähnt bleiben, dass bereits im Dezember 1990 der damalige KGB-Chef Wladimir Kurschkow anordnete: „Kommerzielle Strukturen aufzubauen, um sie, sollte es in der UdSSR die Situation wie in der Ex-DDR geben, als Dach für hochrangige Parteimitglieder und Mitarbeiter der Geheimdienste nutzen zu können.“ Und es gab ein Dokument des ZK der KPdSU „über unaufschiebbare Maßnahmen zur Organisierung der kommerziellen und außenwirtschaftlichen Tätigkeit der Partei.“ In ihm war zu lesen: „Auszuarbeiten sind Vorschläge für die Schaffung neuer „vermittelnder“ Wirtschaftsstrukturen (Fonds, Assoziationen…), die bei minimal „sichtbaren“ Verbindungen zum ZK der KPdSU zu Zentren der Herausbildung einer „unsichtbaren“ Parteiwirtschaft werden können.“35 Hinzu kam, was Anatolij Tschubais, auch gerne „Vater der russischen Privatisierung“, genannt und erster Vizepremier Russlands, 1998gegenüber einem Journalisten sagte: „Wir hatten ja nicht die Wahl zwischen einem idealen und einem kriminalisierten Übergang zur Marktwirtschaft. Wir standen vor der Alternative: kriminalisierter Übergang oder Bürgerkrieg.“
Und St. Petersburg war die erste russische Stadt, in der Eigentum privatisiert wurde. Auch Anatoli Tschubais war zuerst in St. Petersburg tätig. Der Kampf um die Umverteilung von staatlichem Vermögen, auch unter kriminellen Strukturen, hat in St. Petersburg daher früher begonnen und ungleich größere Ausmaße als in anderen russischen Städten angenommen.
St. Petersburg war schon zu Sowjetzeiten eine Art Versuchslabor, wo die kriminelle Welt Methoden ausgearbeitet und ausprobiert hatte, um sie später auf ganz Russland zu übertragen. Durch seine ideale Lage, die Nähe zum und die guten Verbindungswege in den reichen Westen, bot die Stadt schon immer gute Aussichten für das Geldverdienen aller Art. Und welche andere große russische Stadt verfügt über diese Voraussetzungen und liegt zudem recht weit außerhalb des Blickwinkels der staatlichen Machtorgane?
Putin hatte nun in diesem St. Petersburg viele Möglichkeiten, zum Beispiel Lizenzen erteilen und die Quotierung von Exportgütern festzulegen. Das führt zu einem ersten großen Skandal.
Als ich versuchte den Bericht zu bekommen, der diesen Skandal dokumentierte, erhielt ich aus St. Petersburger eingeweihten Kreisen folgende Nachricht: „Die Person Marina Salie steht unter Kontrolle und die damals erfolgten offiziellen Untersuchungen und offiziellen Unterlagen sind „offiziell“ nicht mehr zugänglich. Die Beschuldigungen von Marina Salie waren lange Zeit im Internet auf der Webseite der Glasnost-Foundation in Moskau nachzulesen. Inzwischen ist diese Seite vom Netz genommen worden.
Marina Salie hatte im Januar 1992 im St. Petersburger Stadtparlament eine Arbeitsgruppe von Abgeordneten eingesetzt, die die Vorwürfe überprüfen sollten. Sie war in dieser Zeit Vorsitzende der „Kommission Lebensmittel“ im Stadtparlament von St. Peterburg. Gegenstand der Untersuchungen war die „Rechtmäßigkeit, die Art und Weise sowie die Ergebnisse der in den Jahren 1991 und 1992 abgeschlossenen Verträge zur Beschaffung von Lebensmitteln, die durch den Verkauf von Waren aus Staatsbeständen aus dem Ausland importiert“ werden sollten. Dabei ging es um Lizenzen und Quoten zum Verkauf von Ölprodukten, Holz, wertvollen Metallen sowie Baumwolle. An vier Verträgen soll der Putin direkt mitgewirkt haben.
Hier ein Auszug aus dem Untersuchungsbericht:
„Neben der Prüfung der Rechtmäßigkeit der unterzeichneten Verträge sollte außerdem untersucht werden, ob der Vorwurf von Machenschaften und Amtsmissbrauch bei der Realisierung dieser Verträge durch verantwortliche Leiter und Mitarbeiter des Komitees für Außenwirtschaftsbeziehungen beim Bürgermeisteramt von St. Petersburg zutraf.“
Immerhin ging es um einen Schaden von über 22 Millionen US-Dollar für die St. Petersburg.
Wladimir Putin soll dabei, entgegen den Bestimmungen der russischen Regierung (Verordnung Nr. 90 vom 31. Dezember 1991) verstoßen haben, indem er keine öffentliche Ausschreibung vorgenommen hatte.
Aufgefallen war, dass bei allen abgeschlossenen Verträgen Unterschriften und Stempel, bei einigen Ort und Datum der Vertragsunterzeichnung fehlten. „Bei vier unterzeichneten Verträgen durch das Komitee für Außenwirtschaftsbeziehungen steht die Formulierung „im Auftrage von Wladimir Putin“, unterzeichnet wurden diese Verträge vom Stellvertreter des Komitees für Außenwirtschaftsbeziehungen. Wo lagen die Probleme?
Das Komitee für Außenwirtschaftsbeziehungen hatte kein Recht zur Vergabe der erforderlichen Lizenzen. Wladimir Putin unterzeichnete persönlich zwei Lizenzen. Dies betrafen die Ausfuhr von 150.000 Tonnen Ölprodukte durch die Fa. Newski Dom (Wertvolumen 32 Mio. US$), sowie
Die Ausfuhr von 50.000 Kubikmeter Holz durch die Fa. „Fiwekor“. Beide Lizenzen wurden noch vor Festlegung der Ausfuhrquoten für diese Produkte durch russische Regierung ausgestellt. Die Fa. „Newski Dom“ ist offiziell unter der Adresse St. Peterburg, Prospekt Juri Gagarin registriert. Die Unterzeichnung der Lizenz mit der Fa. „Newski Dom“ erfolgte jedoch unter Eintragung der Adresse St. Peterburg, Nabereshnije Fontanika 113. Bemerkenswert ist außerdem, dass der Vertrag „im Auftrage“ von Anikin (Komitee für AW) und dem Stellv. Direktor der AG „Newski Dom“ W.M. Wittenberg gezeichnet wurde. Unterschrieben wurde der Vertrag von völlig anderen (nicht zu identifizierenden Personen). Es wurde eindeutig festgestellt, dass sowohl der Akt als auch die Ausstellung der Lizenzen sowie die Verfahrensweise durch Wladimir Putin ungesetzlich waren. Das Gemeinschaftsunternehmen „Dshikop“ erhielt eine Ausfuhrlizenz für 13.997 Kilo seltener Metalle. Der Wert dieser Metalle wurde um das zwanzigfache niedriger angegeben als er tatsächlich war. Die „Dshikop“ wurde am 17. September 1991 in St. Peterburg gegründet. Hauptaktionär war der Bürger der BRD, Peter B. mit 33 Prozent. Direktor eines anderen Unternehmens war G. Miroschnik (Ölexporte im Wert von 32 Millionen US-Dollar), ein bekannter Krimineller der Stadt. Er war 1991 in betrügerische Machenschaften mit der Westgruppe einbezogen und wurde später in den USA festgenommen.
Bis zum heutigen Tag ungeklärt ist der Verbleib von Warenbeständen die veräußert wurden (ohne Belege) aus dem Staatshaushalt:
997 Tonne AS (hochreines Aluminium, Wert von etwa 700 Mio. US$); 20.000 Tonnen Zement; 100.000 Tonnen Baumwolle (Wertvolumen 120 Mio. US$) um nur einiges zu nennen.
Er habe keine Zeit gehabt, alles nachzuprüfen, wehrte sich Putin damals gegen die Vorwürfe. Die „dramatische Lage habe rasches, unbürokratisches Handeln verlangt.“
Im April 1992 wurde die Untersuchungskommission auf Druck von Moskau aufgelöst. Als Marina Salie ankündigte, es dabei nicht bewenden zu lassen, soll ihr Putin geantwortet haben: “Das dürfte Ihnen nicht gut bekommen.“ Marina Salie jedenfalls kritisierte in der Vergangenheit Wladimir Putin deshalb massiv: „Förderungvon Korruption und organisierter Kriminalität und nicht der Kampf dagegen ist Putins Stempel. Seine Verbindungen mit Kriminellen sind durch verschiedene Tatsachen geprüft. Zwischen 25-bis 50 Prozent betrugen die Einnahmen durch solche gefälschten Vereinbarungen.“ „Das war der Beginn des korrupten Systems in St. Petersburg“, sagt der ehemalige Vorsitzende des St. Petersburger Stadtrates Alexei Belyaev.
Wladimir Putin hatte demnach, gerade auf Grund seiner Position, in dem staatlich-kriminellen Machtgefüge St. Petersburg von Anfang an keine unbedeutende Rolle gespielt. Und das während seiner Zeit in St. Petersburg insbesondere eine kriminelle Organisation, die Tambovskaja, einen rasanten Aufstieg nehmen konnte, dürfte ihm ebenfalls nicht verborgen geblieben sein.
Unabhängig davon waberte die Gerüchteküche in St. Petersburg trotzdem. Geschrieben wurde, dass Wladimir Putin verantwortlich für die Lizenzvergabe für Casinos gewesen sei und für jede Lizenz zwischen 100.000 und 300.000 Dollar bezahlt werden musste. Einer der es wissen muss erzählte mir: „Die Stadt suchte damals Einkünfte. Das hatte nichts mit Putin zu tun. Für die Lizenzvergabe war das Komitee für Wirtschaft und Finanzen zuständig.“
Im Zusammenhang mit dem Vorwurf Bestechungsgelder kassiert zu haben geriet der georgische Unternehmer Michail Mirilashvili ins Visier. Er soll Putin dafür monatlich 20.000 Dollar bezahlt haben. Das Kompromat, aus dem die Vorwürfe zitiert wurden, stammte aus dem FSB und zirkulierte seit 1999 in Moskau. Demnach sei es der Sicherheitsdirektor eines Unternehmens in St. Petersburg gewesen, der persönlich das Geld für die Lizenzen der Kasinos eintrieb. Nach diesem Kompromat zu urteilen, habe er 1995 an Putins Ehefrau einen Diamanten geschenkt. Der Mann habe seine Dienste Putin angeboten als Ausgleich dafür, dass Putin seine Aktivitäten „deckt“.
Alles Kompromat – es wäre in dem Machtpoker in St. Petersburg kein Wunder. Die Versorgung von Günstlingen mit Hilfe von Tipps oder die Destabilisierung von potentiellen und tatsächlichen Gegnern und Konkurrenten durch Gerüche – das hat nicht nur in Russland Hochkonjunktur. „Willkür der Beamten, zahllose Verletzungen von Gesetz und Menschenrechten im Bereich der Rechtsschutzorgane, die Verwandlung der Generalstaatsanwaltschaft in eine Brutstätte bestellter politischer Straftaten, Informationskriege zwischen verschiedenen politischen Gruppierungen und Clans, Auftragsmorde an Politikern und Geschäftsleuten – so sieht heute das reale politische Leben in Russland aus.“36
Dabei hatten in den letzten sechs bis sieben Jahren durchaus widersprechende Interessen den entscheidenden Einfluss auf das politische Kräfteverhältnis in St. Petersburg, gerade im Zusammenhang mit der Umverteilung des staatlichen und städtischen Eigentums. Andererseits waren sowohl Politiker, wie Unternehmer und kriminelle „Autoritäten“ auf allen Ebenen miteinander verflochten.
Das Unternehmen PTK
Im Jahr 1994 wurde von der St. Petersburger Stadtregierung die PTK (Peterburgskaja Tobliwnaja Kampagnija) gegründet, die das Exklusivrecht zum Handel mit Brennstoffen in der Stadt erhielt. Den Vertrag unterzeichnet hatte Wladimir Putin.
Die Geschichte der PTK in St. Peterburg und im Leningrader Gebiet ist in der Anfangsphase mit reinen kriminellen Machenschaften verbunden gewesen. Ihren heutigen wirtschaftlichen Status und ihren beträchtlichen Einfluss in Politik und Wirtschaft konnte die PTK jedoch nur dank ihrer personell und geschäftlich sehr engen Beziehungen in den Regierungsapparat hinein erreichen. Die Geschäftsführung der PTK nutzte dabei gezielt die im breiten Maße existierende Korruption innerhalb des Beamten- und Verwaltungsapparates der Stadt St. Peterburg. In einem internen Dokument des FSB ist darüber folgendes zu erfahren: „Die “gegenseitige“ Interessenlage der PTK-Führung und führenden Mitarbeiter der Petersburger Regierung mit kommunalen und staatlichen Firmen zeigt sich darin, dass entscheidende Bereiche der St. Petersburger Regierung (darunter die Vermögensverwaltung ‚Kug’), Gründungsgesellschafter der PTK sind, beziehungsweise im Firmenverbund der “Tambower Gruppierung“ als Mitgesellschafter oder personell in Führungspositionen vertreten sind.“
Die finanzielle Grundlage der PTK basierte darauf, dass es vertraglich abgesicherte Staatsaufträge gab, die gegenüber der Konkurrenz sehr günstig waren. Diese langfristige Auftragslage sowie die zur Verfügung stehenden Finanzmittel zur Abwicklung der Aufträge war für die PTK ein stets berechenbarer Faktor, um entsprechend profitabel agieren zu können.
Die Staatsaufträge der St. Petersburger Administration wurden jährlich über das „Komitee für Transportfragen“ mit der PTK unterzeichnet. Dabei ging es um die Versorgung des öffentlichen Fahrzeugparks der Stadt St. Peterburg mit Diesel, Benzin und anderen Treibstoffen durch das firmeneigene Tankstellennetz der PTK. Praktisch bedeutete das, dass alle174 Buslinien (auf jeder Strecke verkehren im Minimum fünf Busse), der Autopark der Stadtverwaltung für Inneres, der Krankentransport, die Spezialtransportfahrzeuge (Müllentsorgung), der Pkw-Park der Stadtregierung exklusiv von der PTK versorgt wurden.
Den Umfang dieser Geschäfte lässt sich erahnen, wenn davon ausgegangen werden kann, dass die öffentlichen Transportmittel der Stadt St. Peterburg für 5,5 Millionen Menschen ausgerichtet sind. Die für die Bezahlung der Treibstoffe erforderlichen Finanzmittel wurden aus dem Haushaltsbudget der Stadt direkt (und ausschließlich) auf Konten von PTK-Firmen bei der “Petersburger Stadtbank“ überwiesen.
Von der Petersburger Stadtbank wiederum wurden, auf der Grundlage eines festgelegten Schemas, größere Beträge auf Konten von “Off-Shore-Firmen“ des PTK-Firmengeflechtes überwiesen. Über diese “Off-Shore-Firmen“ wurden dann die benötigten, frei verfügbaren Barmittel “produziert“. Hinzu kommt ein weiterer Vorteil: Staatsaufträge sind dem direkten unangemeldeten Zugriff im Falle eventueller Kontrollen seitens der Justiz entzogen. Haupteinnahmequelle der PTK (Barmittel) war jedoch das eigene Tankstellennetz, sowie die Autoservice-Stationen und Werkstätten.
Es ist nicht falsch davon auszugehen, dass eine Tankstelle des PTK-Netzes in einem Zeitraum von 24 Stunden im Durchschnitt etwa 2000 US-Dollar Reingewinn erwirtschaftet. Pro Monat bedeutet das etwa 60.000 US-Dollar. Praktisch wurden daher monatlich Reingewinne in Millionenhöhe erwirtschaftet. Die täglichen Einnahmen wurden dann auf Konten der Hausbank der PTK, der “St. Petersburger Stadtbank“ eingezahlt. Eine große Konkurrenz zur PTK war das finnische Unternehmen „Neste“. Im September 1997 wurde Valerij Mandrykine, der Vizepräsident von „Neste“ in St. Petersburg erschossen. Und das obwohl es lange Zeit unter dem „Dach“ der Tambovskaja einigermaßen arbeiten konnte. Als es der Firmenleitung gelang, immerhin es war ein finnisches Unternehmen, sich vom „Dach“ zu befreien, folgte die Antwort.
Kennzeichnend für weitere Entwicklung innerhalb der “Tambovskaja“ war überhaupt die Tatsache, dass in der Zeit von 1995 bis 2002 selbst einzelne Führungskräfte der Tambovskaja “eliminiert“ wurden, ein anderer Teil sich systematisch eine “legale Geschäftsbasis“ aufbaute und wiederum andere sich ganz aus der Gruppe zurückzogen. Mit ein Grund war eine lang anhaltende Mordserie, die in den Jahren 1997 und 1998 St. Petersburg zur „Hauptstadt der Kriminalität” gemacht hat.
Sie hing wiederum damit zusammen, dass die letzten internen Auseinandersetzungen zwischen den unterschiedlichen Machtblöcken ausgetragen wurden und die letzten Säuberungen stattfanden. Und der Kreml hatte ein großes Interesse in St. Petersburg endlich für Ruhe zu sorgen. Der Weg dorthin war blutig.
Es begann mit der Ermordung des St. Petersburger Vizegouverneurs Michail Manewitsch. Er wurde im August 1997 in der Nähe vom Newski Prospekt in seinem Auto erschossen. Manewitsch war für die Privatisierung des Staatseigentums im Leningrader Gebiet zuständig. Einer seiner Mörder saß mit einem Gewehr auf dem Dachboden eines Hauses (das Szenario erinnert an die Ermordung Kennedys), an demManewitschs Wagen vorbeifuhr. Sechs Schüsse durch das Dach des Autos ließen dem Politiker keine Chance.
Im September 1998 wurde Jewgeni Agarjow, ein hoher Stadtbeamter, der für Friedhöfe, Badeanstalten und Friseursalons zuständig war, in seinem Haus in die Luft gesprengt. Und einen Monat später wurde, ebenfalls in seinem Haus, der im Erdölgeschäft tätige stadtbekannte Unternehmer und persönliche Freund des Dumavorsitzenden Selesnjow Dimitri Filimonow durch eine Bombe getötet. Im Oktober wurde auch auf Michail Oscherow, den Assistenten Selesnjows in St. Petersburg, ein Mordanschlag verübt. Wie Galina Starowoitowa wurde er in den Kopf geschossen, er hat aber überlebt. Galina Starowoitowa wurde am 20. November 1998 erschossen, als sie in ihre Wohnung gehen wollte. Die Ermordung der Dumaabgeordneten und Führerin der Partei „Demokratisches Russland“ erschütterte das Land.
Seit Ende der 90er Jahre wurde eine systematische und erfolgreiche Etablierung von Mitgliedern der “Tambovskaja“ in Industrie und Wirtschaft der Stadt St. Peterburg und des gesamten Umlandes durchgeführt. Dabei wurde strikt darauf geachtet, auf gesetzlicher Grundlage zu arbeiten, strafrechtlich belastete Personen wurden nicht mehr eingesetzt. Qualitativ neu war auch die Tatsache, dass erwirtschaftete finanzielle Mittel durch Firmen und Organisationen (der “Tambower“) in den Wirtschaftskreislauf wieder zurückgeführt wurden (im Gegensatz zur Praxis Anfang und Mitte der 90er Jahre, wo große Summen dieser Gelder ins Ausland “transferiert“ wurden).
Mitglieder“ der Führungsclique der “Tambovskaja“ hatten entsprechende Lobbyarbeit geleistet oder rückten durch ihre Aktivitäten und personellen Verstrickungen mit Mitarbeitern staatlicher Behörden in einflussreiche Positionen auf. Danach war alles geklärt. Engste Vertraute von Kumarin über einen längeren Zeitraum waren Mischa der “Ukrainer“ (“Chochol“) (Michael Gluchtschenko) und “Babuin“ (Valerij Ledowskij). Beide zeichneten bis zum Jahre 1999 für “Sicherungs- und Strafmaßnahmen verantwortlich. Kumarin selbst hat sich 1999 im Zuge seiner umfangreichen, legalen Geschäftsaktivitäten von nahezu allen “offen und direkt belasteten“ (strafrechtlich) kriminellen Personen in der Führungshierarchie der “Tambow“ distanziert. Gluchtschenko ist heute Abgeordneter der Duma der Russischen Föderation (für die Liberal-Demokratische Partei von Schirinowski). Wer ist dieser Abgeordnete. Das erzählte mir einer aus seiner Truppe: „Michail Gluschenkow ist ein wichtiger Mann der Tambow. Er ist eine Person, die den Leuten Angst einjagt. Bis 1992 war er sehr aggressiv. Er hatte immer zwei Leute aus Zentralasien um sich, die auf sein Wort hin ein Schaf oder auch einen Menschen schlachten konnten. Er war immer bewaffnet Neugierig war er und interessierte sich für alles Neue und Unbekannte, wenn es Macht oder Profit bringen konnte. Seine Idee war es: ‚Wir müssen International sein und uns in den Westen bewegen’. Geld war ihm gleichgültig. Das heißt nicht, da er das Geld nicht haben wollte. Sein Ziel war aber vielmehr die Erniedrigung. 1992 wurde auf ihn geschossen. Danach verlor er ein paar seiner ihm nahe stehenden Leute und er wurde ruhiger, war nicht mehr so wild. Für Außenstehende kann er sehr sympathisch sein. Aber was Autorität betrifft, spricht er nur mit Leuten, die ihm gleichgestellt sind.
In der kriminellen Welt hatten viele vor ihm Angst und Respekt. Er wiederum hat großen Respekt vor über ihn stehenden Autoritäten und über ihn stehenden Offizieren der Sicherheitsorgane. Alle anderen waren für ihn Müll. Er wusste zu bestimmten Gelegenheiten aus seiner Vergangenheit und von grausamen Erlebnissen zu erzählen und genoss fast fanatisch seinen Platz in der Tambow.“
Die “Tambower“ kontrollierten inzwischen fast vollständig den “Morskoi Torgowy Port“ (Handeishafen St. Peterburg), sowie die „Sewerno-sapadnoje Parochodstwo“ (Nord-Westliche Schifffahrtsgesellschaft), bedeutende Teile des Energieunternehmens “Lenenergo“, sowie etwa siebzig Prozent des gesamten Brennstoffmarktes von St. Petersburg. In der Leicht- und Fleischindustrie hatte sie quasi eine Monopolstellung erreicht. Sie verfügte zudem über ein umfangreiches Handelsnetz und private Klubs. Verankert ist sie außerdem im Bauwesen und im Immobiliengeschäft. Ein Beamter der RUOP, der Einheit zur Bekämpfung Organisierter Kriminalität, berichtet: „Die Analyse der Tätigkeit der “Tambower“ Gruppierung, ihre Methoden, insbesondere ihre ausgeprägten personellen Verflechtungen und Positionen in Wirtschaft und Behörden lassen den Schluss zu, dass sich die kriminelle Struktur zu einer Art “Schattenregierung“ entwickelten. Das würde bedeuten, dass sie der dominierende Faktor in der Stadt St.Petersburg geworden ist.
Ein Ergebnis davon war sicher, was Boris Gryslow im August 2001 beklagte, dass „über einhundert Firmen in St. Petersburg von der Tambow-Mafia kontrolliert werden und achtzig Prozent des gesamten Handels, der die wichtigsten Häfen der Region, einschließlich St. Petersburg gegenwärtig unter Mafiakontrolle“ stehen. Außerdem würden kriminelle Gruppen den Export von Rohstoffen sowie den Import von Alkohol und Tabak kontrollieren.“46
Und Yakov Gilinsky sagt düster: „Ich glaube, Russland ist im Augenblick eine kriminalisierte Gesellschaft und ein krimineller Staat.“
Gilinsky muss es wissen. Er ist in St. Petersburg einer der wenigen der versucht, Einblicke in die dort herrschenden kriminellen Strukturen zu geben. Der Professor, Vorsitzender des Institutes für Soziologie und abweichendes Verhalten der russischen Akademie für Wissenschaften, sowie Dekan der juristischen Fakultät der St. Petersburger internationalen Universität für Ökologie, Wirtschaft und Recht, führte seit 1993 eine kriminologische Studie über die Schwarzmarktwirtschaft und die organisierte Kriminalität in St. Petersburg durch. Er lebt in einem Hochhauskomplex am Rande von St. Petersburg in einer kleinen drei Zimmerwohnung. Sein Verdienst reicht gerade aus, um das Nötigste zu besorgen.
Bei seiner Forschungsarbeit beschrieben ihm seine Interviewpartner ihre Situation folgendermaßen: „Man kommt ohne illegale Geschäfte nicht aus“, „legale und illegale Methoden sind ineinander verzahnt“. Das bestätigten ihm auch führende Polizeioffiziere. „Die mittleren Geschäftsleute sind äußerst kriminalisiert… man muss für alles Bestechungsgelder zahlen… die Schulden müssen eingetrieben werden, indem man Gewalt anwendet… man kann nicht Steuerprüfungen abwickeln, ohne Bestechungsgelder zu bezahlen… Mafiosi können unter den Vorstandsmitgliedern von Banken angetroffen werden“. Und so weiter. Gilinsky listete danach auf wie die Tätigkeiten aussehen, die von der Banditen in den Banken selbst verübt werden: „Bankmaschenschaften, fiktive Transaktionen im Immobiliensektor, Autodiebstähle –und Wiederverkäufe, illegale Exporte von nicht eisenhaltigen Metallen, Schwarzmarkt-Transaktionen mit „humanitärer Hilfe.“, Produktion und Schmuggel von schwarz produziertem Alkohol, Waffenhandel, Geldfälschungen, Agenturen, die sexuelle Leistungen anbieten, Drogengeschäfte.“49
Fazit des Wissenschaftlers: „In Russland gibt es keine legale Wirtschaft mehr“. Und er fügte dann hinzu: „Wenn wir alle Verbrecher einsperren, bricht die Wirtschaft zusammen.“
Denn seit Anfang der neunziger Jahre haben kriminelle Organisationen erfolgreich die „legale Wirtschaft unterwandert“, so Yakov Kostjukowski, Mitarbeiter von Gilinsky und auch ein Kenner der organisierten Kriminalitätin St. Petersburg. „Das Lösen von Problemen mit Gewalt ist auch in den legalen Betrieben zur Regel geworden.“ Das ist unter anderem Putins Vermächtnis in Sankt Petersburg an das man noch einmal erinnern sollte.